Hei,
Gast hat geschrieben:Schade das es hier so wenig Antworten gibt- scottis "Außenansicht" kann doch nicht der Weißheit letzter Schluss sein, wo bleiben denn die persönlichen Erfahrungen!?
Eine aktuelle Innenansicht kann ich leider auch nicht bieten, es ist schon einige Jahre her, dass ich in Norwegen gelebt habe - und das auch nur als Student, der weiterhin im deutschen Sozialsystem seinen Platz hatte.
Ich halte das Thema für hochkomplex und man kann sicher nicht sagen "macht es wie die Skandinavier, dann läuft der Laden" - dafür sind die Rahmenbedingungen einfach zu unterschiedlich (z.B. unterschiedliche Bedeutung des landwirtschaftlichen und industriellen Sektors). Scotti hat ja auch bereits auf die Probleme hingewiesen, die z.B. die Finnen und Schweden ebenfalls haben.
Ich habe einige Blitzlichter zum norwegischen System zusammengetragen, die v.a. zeigen sollen, dass dieses ebenfalls mit ähnlichen Problemen kämpft wie das deutsche System - vielleicht dank der Ölmilliarden nicht ganz so extrem (wenn auch der größte Teil der Öleinnahmen bewusst auf die hohe Kante gelegt wird und nicht in den Staatshaushalt fließt).
Bezogen auf das norwegische Sozialsystem habe ich den Eindruck, dass die Leistungen, die der/die Einzelne erhalten kann, im Wert etwa den deutschen Leistungen entsprechen - nur sind sie anders verteilt. Beispiel: In D sind Eltern für den Unterhalt ihrer Kinder verantwortlich, solange die Kinder in Ausbildung sind, max. bis zum 27. Lebensjahr. Solange wird auch Kindergeld ausbezahlt. In N endet die Unterhaltspflicht der Eltern für ihre Kinder mit deren Volljährigkeit (18 J.), ab dem Moment gibt es aber auch kein Kindergeld mehr. Dafür erhalten praktisch alle norwegischen Studierenden ein Studiendarlehen (bei uns: BAFöG), bei uns sind es nur wenige. Wir erhalten BAFöG zu einem großen Teil als Zuschuss, der Darlehensanteil wird nicht verzinst - in N ist die staatliche Studienfinanzierung zum größten Teil bzw. ganz ein verzinstes Darlehen (kenne den aktuellen Stand nicht, es war mal in der Diskussion, einen Teil als Zuschuss bzw. zinslos zu gewähren). So ziehen sich die Unterschiede durch das System.
Im Gesundheitsbereich gibt es in N schon längst eine Zuzahlung bei Arztbesuchen, die Budgetierung im Krankenhausbereich wurde schon vor langem eingeführt (mit ähnlichen Nebenwirkungen wie bei uns), und eine Zahnbehandlung muss man selber zahlen ...
Von einer Freundin weiß ich, dass sie sich mit dem Sozialamt (Trygdekontor) ebenso herumschlagen muss wie wir uns mit unserem Sozialamt bzw. den Krankenkassen. Im Mai wurde ihr das Krankengeld gestrichen, eigentlich hätte sie dann Erwerbsunfähigkeitsrente bekommen müssen - tatsächlich musste sie bis Herbst von ihren Ersparnissen leben, bis dann ein neuer Bescheid kam.
Soweit ich weiß, wird das norwegische Sozialsystem aus Steuermitteln und nicht aus Kassen/Versicherungsbeiträgen finanziert. Dadurch werden alle Steuerzahler an der Finanzierung beteiligt. Dies ist vielleicht tatsächlich etwas, das für Deutschland hilfreich sein könnte. Also: Abschaffung der Kranken- und Rentenkassen sowie der Arbeitslosenversicherung, statt dessen Einführung einer Sozialsteuer, die alle Lohn/Einkommensteuerpflichtigen zu zahlen haben. Damit würde die Abgabenlast auf mehr Schultern verteilt, v.a. Besserverdienende, Selbstständige und Beamte müssten dann auch einen Beitrag leisten (mich würde es auch treffen, ich zahle derzeit auch keine Sozialabgaben). Das ist sicher kein Allheilmittel, könnte aber ein Baustein in einem reformierten Sozialsystem sein (was derzeit diskutiert wird, ist ja keine echte Reform, sondern nur eine verkappte Leistungskürzung und Mittelumschichtung).
Ich hielte es weiter für wichtig, dass alle Mittel in einen gemeinsamen Topf fließen und aus diesem verteilt werden. Derzeit werden die Kosten von Bund, Land, Kreisen, Kommunen und verschiedenen Kassen zu je einem Teil getragen. Dies regt zwar die Phantasie in den Amtsstuben ungeheuer an, aber nur zu dem Zweck, dass Wege gesucht werden, wie Lasten abgewälzt werden können (Beispiel: Baden-Württemberg als Land streicht die Mittel für die ambulante Betreuung von psychisch Kranken. Diese müssen nun stationär in psychiatrischen Krankenhäusern behandelt werden, was sehr viel teurer ist - aber es ist nicht mehr das Land, das für die Kosten aufkommen muss).
Im politischen Bereich ist in Norwegen so etwas wie ein "nationaler Konsens" zu beobachten. Strittig ist nicht das "dass" eines Sozialstaats (wenn man mal die Frp. vernachlässigt), sondern im Einzelfall die Frage, welches das beste Mittel ist. Dabei sind die Parteien durchaus in der Lage, sich auch zu bewegen - ob das nun die Voraussetzung oder das Resultat dessen ist, dass Norwegen seit Jahrzehnten erfolgreich von Minderheitsregierungen regiert wird (die auf Kompromisse angewiesen sind), weiß ich nicht.
Hier brech ich mal ab ...
Ich hielte es für wünschenswert, wenn über Fragen der Wirtschafts- und Sozialpolitik ein intensiverer Austausch zwischen D und den nordischen Ländern gepflegt würde - nicht, weil dort alles perfekt ist und man nur die Systeme kopieren muss, sondern weil es auf beiden Seiten gute Ideen gibt, die sich gegenseitig befruchten könnten, und dabei im Kern in eine ähnliche Richtung streben - nämlich eine möglichst sozial gerechte Gesellschaft.
Hilsen
Rolf