Ich krame diesen Thread mal wieder hervor für eine Geschichte, die mir seit langem im Kopf herum geistert und nun endlich aufgeschrieben wurde.
Achtung: sehr lang!
(M)ein Jahr in Norwegen – eine ehrliche Bestandsaufnahme Teil 1
Als ich frühmorgens, halb verschlafen an Deck der MS Bergensfjord stehe, zu beiden Seiten Land erblickend, begreife ich langsam, dass ich zum zweiten Mal in meinem Leben dabei bin, meine Grundmauern auf den Kopf zu stellen und kräftig zu schütteln. Wie grundlegend kann ich zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht absehen.
Verwundert, neugierig, erwartungsfroh blicke ich auf die grünen Hänge gesprenkelt mit bunten Holzhäusern. Ein weiterer weißer Fleck auf meiner imaginären Landkarte ist dabei, entdeckt zu werden.
Als ich eine halbe Stunde später an Land gehe, norwegischen Boden das erste Mal betrete, habe ich nur einen vagen Plan, kein Dach über dem Kopf und keine Ahnung wo ich anfangen soll. Die Touristeninformation als erste Anlaufstelle hilft dabei eine Unterkunft mit Internet zu finden. Etwas gewagt war das Unternehmen schon, ohne Hotel, ohne Zimmer nach Bergen fahren im Glauben bald ein Dach über dem Kopf zu haben für die nächsten sechs Monate, die ich hier verbringen werde. Als nächstes muss eine norwegische SIM-Karte her, auch hier kann mein Vorgehen fast blauäugig genannt werden, wie ich später erfahre. Normalerweise geht ohne P-Nummer oder wenigstens D-Nummer reichlich wenig. Trotzdem bekomme ich eine Prepaidkarte von telenor und kann mit der Suche nach einem Zimmer beginnen und gleichzeitig die Stadt erkunden.
Von Deutschland aus zu suchen, war leider nicht möglich gewesen, da ich einen Monat vor Abreise drei mündliche und eine schriftliche Prüfung sowie eine Hausarbeit von ca. 20 Seiten und meinen Umzug zu organisieren hatte. Darüber hinaus war ich studentische Hilfskraft und führte eine Fernbeziehung. Da blieb nicht viel Zeit.
Das Angebot der Universität ins Studentenwohnheim Fantoft zu ziehen, hatte ich abgelehnt, da ich erfahren hatte, dass fast nur ausländische Studenten dort wohnten und es relativ weit außerhalb lag. Das war in keiner Weise das, was ich suchte. Die Suche nach einem Zimmer gestaltete sich schwierig. Der Wohnungsmarkt in Bergen ist zu Beginn des neuen Semesters ähnlich überlaufen wie in deutschen Großstädten. Erschwerend kam hinzu, dass ich zu diesem Zeitpunkt noch kein Norwegisch sprach und nur ein halbes Jahr bleiben wollte. Der Frust war vorprogrammiert. Die meisten Vermieter luden mich nicht mal zu einer Besichtigung ein, auch WG-Mitglieder die einen Mitbewohner suchten, waren mehr als skeptisch. Die erste Besichtigung zu der ich eingeladen wurde, war ein Massendurchlauf. Über 50 Studenten für 3 Zimmer. Ich kam auf den letzten Platz der Liste. Einfacher und vor allem ehrlicher wäre es gewesen, sie hätten mich erst gar nicht aufgenommen. Dreißig Anrufe und zahllose Emails, von denen keine einzige beantwortet wurde, später bekam ich endlich eine zweite Chance. Ein Besichtigungstermin für eine Sechser WG mitten in der Stadt. Fünf Minuten zu früh, waren der Hausverwalter und mehrere Interessenten bereits da. Ich besichtigte die Zimmer und hörte bei vieren, dass sie bereits vergeben seien und dass wenn ich eines der anderen beiden wolle, sofort zusagen müsste. Die Pistole auf der Brust, ohne weitere Option, wissend dass die Orientierungsphase bald begann, schlug ich zu.
Der Berg war noch nicht erklommen. Um das endgültige Recht für das Zimmer zu bekommen, musste ich sofort ein Kautionskonto eröffnen und 9000 NOK aufzahlen. Dies war ohne die bereits erwähnte D-Nummer aber nicht möglich. Ich war am Verzweifeln. Der glückliche Umstand wollte es, dass der Hausverwalter ein ausgewanderter Deutscher war, der mir anbot, die Kaution bar zu hinterlegen und auf das Konto zu überweisen, sobald ich die Nummer hatte. Endlich! Die Erlösung. Mehr oder weniger in letzter Minute. Die Geschichte des Antrags der D-Nummer und der Eröffnung des Kontos erspare ich mir, nur so viel, es entwickelte sich zu einem Spießrutenlauf à la Asterix im Irrenhaus.
Mein Prinzessinnenzimmer unter dem Dach war klein, der Boden schräg, der Schrank fiel halb auseinander, es gab keine Vorhänge, dafür einen guten Blick ins Nachbarhaus und nur ein schmales Bett. Mir war es egal. Hauptsache eine Bleibe, egal wie teuer und egal, dass ich keinen meiner neuen Mitbewohner kannte. Drei Norwegerinnen, ein Norweger und ein Deutscher. Ein Kurzbesuch bei Ikea war in der Auslandssemesterkasse sogar noch drin, sodass ich mir einen Tisch und einen Schreibtischstuhl kaufen und die wenigen persönlichen Dinge einräumen konnte, die ich mitgenommen hatte. Ich fühlte mich wohl.
Die nächsten anderthalb Wochen reiste ich mit meinem Freund durch Fjordnorwegen, ebenso planlos, was sehr schön und die beste Art war, das Land zu entdecken.
Danach begann mein neues Leben in Bergen. Während der Orientierungswoche erfuhr ich, dass es an der Uni zahlreiche studentische Clubs gab. Ich beschloss mich zu engagieren, um möglichst viele Leute kennen zu lernen. Ich wollte Theater spielen. Beim ersten Treffen der Theatergruppe bat ich um eine kurze englische Zusammenfassung der Vorstellung, da die erste Stunde meines norwegischen Intensivkurses erst in einer Woche begann. Mir wurde zugesichert, dass mir alles erklärt würde, da ich nicht, wie sich herausstellte die einzige anwesende Ausländerin war. Was danach passierte, kann ich bis heute nicht nachvollziehen. Es bildete ein weiteres Puzzleteil des überaus holprigen Starts und meiner wachsenden Skepsis, ob das mit Norwegen so eine gute Idee gewesen war. Hätte ich nicht lieber in ein englisch sprachiges Land sollen, wo ich die Sprache sehr gut beherrsche? Denn die Organisatoren begrüßten zwar alle auf Englisch, sagten dann aber, dass sie die Vorstellung auf Norwegisch machen würden, da es einfacher für sie sei. Den darauffolgenden Ausführungen lauschte ich mit immer größer werdendem Befremden. Ich fühlte mich völlig fehl am Platz, verstand nicht, warum gelacht wurde, verstand überhaupt nur einzelne Bruchstücke, die ich mir irgendwie zusammen reimen konnte. So hatte ich mir das mit dem Leute kennen lernen nicht vorgestellt.
Entmutigt ging ich nach der Veranstaltung nach Hause. Das konnte ja heiter werden. Am nächsten Abend beschloss ich zu einem weiteren Vorstellungsabend zu gehen. Ich interessierte mich auch für das Studentenfernsehen. Auch dort bat ich um eine kurze, englische Zusammenfassung des Gesagten. Anstelle nur zusammenzufassen, wechselten die Verantwortlichen vollständig ins Englische. Nur ganz am Ende machten sie eine kurze norwegische Fragerunde. Ich war glücklich, hatte endlich doch offene Arme gefunden. Ich bewarb mich als Reporterin und wurde genommen.
Der Unialltag hatte mich schnell im Griff. Nur zwei Kurse zu haben, den Intensivkurs in Norwegisch und einen weiteren in meinem Fach, war mir mehr als komisch vorgekommen. Wollte ich jedoch mithalten, musste ich mehr als gewohnt nach und vorbereiten. Es machte Spaß, sich auf zwei Themen zu konzentrieren, in die Tiefe gehen zu können und nicht wie in Deutschland üblich mindestens sieben oder acht Themen zu bearbeiten. Nach dem holprigen Start fühlte ich mich bald sehr wohl in Bergen, das Studentenfernsehen, ein Programm der Uni, das norwegische und ausländische Studenten zusammen brachte und später der Bergen Stammtisch vom Forum sorgten dafür, dass ich Deutschland nicht vermisste und das Fehlen meines Freundes ausblenden konnte. In Deutschland war es schließlich auch eine Fernbeziehung gewesen. Dass wir uns jetzt anstelle von ein paar Wochen, ein paar Monate nicht sehen konnten, würden wir schon durchstehen...
Anmerkungen, Fragen etc. bitte wie gehabt per PN.
gruß
mosaglas