von upperoaks » Fr, 24. Jul 2020, 11:15
Jeht et hier nach n Kap ?
Magerøya, die Nordkap-Insel, zu einer Zeit als es den Nordkaptunnel, das Fatima-Projekt, noch nicht oder allenfalls nur auf dem Papier gab, ließ ich mit der damals verkehrenden Fähre Richtung Festland hinter mir. Mein Reisemittel, ein Linienbus, war im Bauch der Fähre verschwunden. Jetzt alle Passagiere auf Deck. Rundumblicke waren angesagt. Schließlich lädt auch das gute Wetter hierzu ein. Etwas wehmütig zurück geschaut, ja, hier einige schöne Tage verbracht. Honningsvåg und natürlich das Nordkap.
Die jüngere Generation weiß das mit der Fähre und dem keinen Tunnel möglicherweise aus Erzählungen der Eltern oder Großeltern. Auch Wikipedia gibt darüber Auskunft. Die erfahrenen Schnelldenker unter uns realisieren wie lange die Begebenheit schon zurück liegen muss. Das tut der Geschichte keinen Abbruch. Sie ist wahr, wahr, wahr. Wenn mir aber jemand anders dies so erzählte, hätte ich es für Seemannsgarn gehalten.
Nach circa einer halben Seemeile Fährfahrt sprach mich eine Dame an, sie hatte einen etwas irritierenden Ausdruck und ich einen hierzu korrespondierenden Eindruck, wörtlich mit Krähstimme, offenbar etwas erkältet vom rauhen Polarklima: „Jeht et hier nach n Kap ?“ Kurz zögerte ich und bedeutete, dass sich die Fähre in die entgegengesetzte Richtung, also zum Festland hin, bewegt.
Ein kurzes Durchatmen, dann erfolgte ein entsetzlicher Schrei. Edvard Munch hat sein berühmtes Bild in Bewegung gesetzt und direkt vor mir lebendig placiert. Die offenbar aus Berlin oder dessen Umland stammende Reisende entwickelte die Fähigkeit einem das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Die die Fähre begleitenden Möwen stoben auseinander in alle Himmelrichtungen. Obgleich ich im Wasser keine Fische sehen konnte, bin ich heute noch felsenfest, 100-%-ig und unverrückbar der Ansicht, dass sie wie die Möwen handelten.
Nicht aber ein tapferer Seemann, ein Besatzungsmitglied der Fähre. „What is your name ?“ zur Frau gewandt. Sie stöhnte nahe dem Wahnsinn ein Piefke oder Priepke in Richtung des Matrosen. „Wait a moment“, wandte sich einen halben bis einen Meter ab, drehte sich nach Lee und sprach in sein Bordfunkgerät. Rauschen, Zischen, Knattern aus dem Gerät, begleitet von einer menschlichen, blechern klingenden Stimme war die Reaktion. Der Sekundenzeiger der Uhr war gerade in den Anfängen einer 360 Grad Umdrehung, da stand der Seemann wieder da. „Come with me“. Wortlos verschwanden beide im Menschengetümmel auf Deck und ich frönte wieder Rundblick, auch Richtung Magerøya, wo das Nordkap noch dabei war meinen Abschied zu verschmerzen - Emotionen wie zu einer vertrauten Person.
Nie, nie, nie hielt ich für möglich, was dann geschah. Die Maschinen stoppten, die Fähre verlor an Fahrt bis zum Stillstand. Urplötzlich setzte sich in wieder in Bewegung - in die Gegenrichtung, zurück zur Insel, quasi rückwärts. Wobei man bei diesen Typen von Fähren nicht wirklich von vorwärts oder rückwärts, von vorne oder hinten sprechen kann - frei nach Janus, dem römischen Gott des Anfangs und des Endes, und seinem Kopf als Ideengeber. Nach mehrminütiger Rückfahrt und routiniertem Anlegemanöver fiel die Klappe des Schiffs runter und meine auch. Ein Besatzungsmitglied der Fähre, diesmal mit sichtbar höherem Rangabzeichen, begleitete Frau Piefke oder Priepke, sie ohne jegliches Reisegepäck, an Land und übergab sie einem Herrn, der sie wiederum zu einer größeren, durchaus stattlichen Limousine führte. Sie stiegen ein und fuhren davon. Das Besatzungsmitglied kehrte zurück. Die Fähre und ich, beide synchron, schlossen die Klappen. Auf ein Zweites: Der Reiseabschnitt Richtung Festland begann von Neuem.
Während der Überfahrt klärte es sich für mich recht schnell: Frau Piefke oder Priepke, Mitglied einer Busreisegesellschaft, hatte bei der ersten Ankunft auf der Insel aus irgendeinem unerfindlichen Grund den Zustieg zum Bus verpasst. Diverse Vermutungen wurden angestellt, die aber für das Geschehnis insgesamt uninteressant sind. Der Bus rollte von Bord und zog von dannen, wohl Richtung Hotel nach Honningsvåg als vorletzte Etappe „nach n Kap“ oder vielleicht doch gleich dorthin ? Als ihr Fehlen bemerkt wurde, spät, sie war offenbar eine Alleinreisende, setzte sich die Service-Maschinerie in Gang wie die Flügel einer Windmühle bei Aufkommen einer steifen Brise. Es schien, als ob eine Geisterhand einen Maschinentelegraphen auf Service-Alarm, auf Hab’ Acht gestellt hätte. Wir Zuschauer auf der Fähre sahen den Beginn einer Hatz einer Limousine auf einen Reisebus.
„Wo jeht et hier nach n Kap“ und der von Munch bebilderte entsetzliche Schrei sind für mich Symbole eines nie zuvor erlebten, außergewöhnlichen Dienstes am Kunden, der beileibe nicht selbstverständlich ist.
Bravo, Norwegen, gut gemacht, die Aktion war gelungen, das war like a champion.
Liebe Grüße
upperoaks
P.S.: Ja, ja, ich weiß, dass die Huldigung recht spät kommt ...
Die Sprache ist die Kleidung der Gedanken - Samuel Johnson
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Testergebnis Besteck: Das Messer hat am besten abgeschnitten.