Der folgende Artikel ist aus der "Berliner Zeitung" vom 18.11.02 .
BERLIN, 17. November. Angesichts sinkender Fischbestände in den Weltmeeren hat Bundesagrarministerin Renate Künast (Grüne) vor einer weiteren Überfischung gewarnt und weit reichende Änderungen in der europäischen Fischereipolitik angemahnt. "Bei einigen Fischarten ist die Bestandsituation ausgesprochen desolat", sagte Künast im Gespräch mit der Berliner Zeitung. Nach den Worten Künasts stehen im Nordatlantik sowie in Nord- und Ostsee mehrere Fischarten kurz vor dem Kollaps. Zum Schutz des akut bedrohten Speisefisches Kabeljau forderte die Grünen-Politikerin ein "sofortiges totales Fangverbot".
Überfischte Bestände
Künast verwies dabei auf die neuesten Zahlen der Welternährungsorganisation FAO. Demnach gelten rund die Hälfte der weltweiten Fischbestände als überfischt. Von den 100 wichtigsten Arten im Nordostatlantik sind 30 gefährdet. Allein beim Kabeljau sind die Bestände in der Nordsee in den letzten 20 Jahren um 85 Prozent geschrumpft. Die Grünen-Politikerin appellierte an die EU-Partnerstaaten Deutschlands, eine "grundlegende Reform in der Fischereipolitik" einzuleiten und unterstützte Pläne von EU-Fischereikommissar Franz Fischler. Der will die europäische Fischfangflotte im Rahmen einer Reform bis 2006 deutlich verkleinern, die Fanquoten auf breiter Front reduzieren und den Fischern schrittweise neue berufliche Perspektiven eröffnen.
"Der Fischerei in Europa droht die schlimmste Existenzkrise in ihrer Geschichte", sagte Künast. Ohne einen wirksamen Schutz der Meeresressourcen sei die Lebensgrundlage zehntausender europäischer Fischer gefährdet. Der EU-Fischereirat in Brüssel will auf seinen Sitzungen Ende November und Mitte Dezember über die neue Fischereipolitik sowie ein Kabeljau-Fangverbot beraten. Der Internationale Rat für Meeresforschung, der die EU in der Fischereipolitik berät und Quoten vorschlägt, hatte sich jüngst für ein solches Verbot ausgesprochen.
Halbherzige Maßnahmen
Die Wissenschaftler in diesem Gremium seien "wahrlich keine Revolutionäre", betonte die Ministerin. Wenn diese von sich aus vor einem Aussterben der Fische warnten, "dann ist Gefahr im Verzug". Am Beispiel des Kabeljau zeige sich, was passiere, wenn nötige Maßnahmen nur "halbherzig und nicht rechtzeitig" getroffen würden. Kabeljau - als junger Fisch Dorsch genannt - ist in Deutschland einer der beliebtesten Speisefische, der vor allem als Frischware und in frittierter Form in den Handel kommt.
Nach Angaben des Verbraucherministeriums gibt es in der Nordsee nur noch rund 37 000 Tonnen fortpflanzungsreifer Kabeljaue. Für das langfristige Überleben der Art halten Wissenschaftler aber ein so genanntes Biolimit von 150 000 Tonnen für nötig. Dieser Wert ist schon seit vielen Jahren deutlich unterschritten. Auch beim Dorsch in der Ostsee sowie bei Plattfischen wie Scholle und Seezunge sei die Lage "sehr ernst", so Künast. Das Fangverbot für den Kabeljau soll nach den Vorstellungen der Bundesregierung "mehrere Jahre" gelten, damit sich die Bestände wieder erholen können. Auch danach brauche man "drastisch reduzierte Quoten", so Künast. Die von einigen EU-Ländern vorgeschlagenen niedrigeren Fangquoten oder strengeren Vorschriften für grobmaschige Netze reichten "bei weitem nicht mehr aus". In der EU sperren sich bislang vor allem die Iren, die Spanier und die Franzosen gegen eine Kehrtwende in der Fischereipolitik. Sie fürchten Nachteile für die lokale Fischwirtschaft.
Laichplätze zerstört
Künast forderte die Länder auf, ihren langjährigen Widerstand aufzugeben. "Wir haben keinen zweiten Versuch, wenn wir den Kabeljau retten wollen", sagte sie und verwies auf Erfahrungen in der kanadischen Atlantikprovinz Neufundland aus den achtziger und neunziger Jahren. Die Wissenschaftler dort hatten seinerzeit über viele Jahre hinweg erfolglos ein Fangmoratorium gefordert. Erst nach einem totalen Kollaps der Bestände vor zehn Jahren wurde der Fang in den einst fischreichsten Gewässern der Welt verboten. Die lokale Fischereindustrie brach quasi über Nacht zusammen, zehntausende Fischer wurden arbeitslos. Bis heute haben sich die Fischbestände nicht erholt. "Es scheint, dass der Kabeljau dort für immer verschwunden ist", sagte Künast. In Argentinien sei das beim Seehecht auch passiert. "Wir Europäer müssen Ähnliches hier verhindern, bevor es zu spät ist", so die Grünen-Politikerin.
Meeresforscher warnen bereits seit Jahren vor einer Überfischung der Meere, sie werden bei dem Geschachere um Fangquoten in Brüssel aber meist überhört. So haben sich die Fänge in den letzten Jahrzehnten drastisch erhöht: Während 1950 weltweit nur 16 Millionen Tonnen Fisch aus den Weltmeeren gezogen wurden, sind es mittlerweile über 100 Millionen Tonnen im Jahr.
Die Gründe für die Zuspitzung der Lage liegen hauptsächlich in den immer ausgefeilteren Methoden der industrialisierten Fischerei. Dabei werden riesige Schleppnetze über den Meeresgrund gezogen, wodurch empfindliche Ökosysteme und damit wichtige Laichplätze zerstört werden. Bei vielen Fangmethoden werden außerdem große Mengen Beifang mit aus dem Meer gezogen, die wegen des Überschreitens der festgelegten Quote dann wieder tot in die See geworfen werden. Zudem werden mit Hilfe von hoch empfindlichen Radarsystemen Fischschwärme mittlerweile selbst in einst unzugänglichen Gegenden aufgespürt und abgefischt.
Gruß Lutz